Gegen 16:30 Uhr, nach ca. 9:45 Stunden Rennzeit erreiche ich Schönau, wo ich noch einmal meine Wasserflasche und Energiereserven auffülle. Zum ersten Mal versuche ich mich nicht länger als nötig an der Labe aufzuhalten – noch knapp eine Stunde über das Steilstück bis zum Tunnel quälen, dann 15 -20 Minuten bis zur Passhöhe, samt kurzer Pause um die Adjustierung für die Abfahrt herzustellen, dann noch ca. 40 – 45 Minuten ins Ziel. Es wird knapp, aber inzwischen erscheint es möglich doch unter 12 Stunden zu finishen und somit die letztjährige Zeit zu verbessern.
Nach der kurzen Pause geht es mir plötzlich bestens – das muss sie wohl sein, die berühmte zweite Luft. Ich fühle mich gut und kann einige andere Radfahrer hinter mir lassen, bis ich auf ein paar Kollegen treffe, deren Tempo ich dann mitgehe, um nicht mein ganzes Pulver zu verschießen. Ein paar Körner möchte ich mir für die letzten Serpentinen noch sparen.
So gut es mir inzwischen wieder geht, es wäre gelogen zu sagen, dass diese letzten Höhenmeter nicht weh tun würden. So kurz vor dem Ziel, mit noch knapp drei Stunden bis zum Zielschluss in Sölden, weiß ich aber, dass nichts mehr schief gehen kann – jetzt könnte ich mein Rad über den letzten Anstieg schieben und ich würde trotzdem mein Finisher Trikot abholen können. So weit kommt es aber nicht – jede Pedalumdrehung bringt mich meinem Ziel näher und auch im Jahr 2013 muss ich keine einzige Welle fahren um das letzte Steilstück, die letzten drei Serpentinen, zu überwinden.
Obwohl mir in meinem kurzärmligen Trikot schon leicht kalt ist, radle ich gleich weiter – ich möchte erst wieder die Grenze nach Österreich passieren und vor dem letzten, kurzen Anstieg zur Passhöhe die Jacke anziehen. So habe ich zumindest zwei Minuten, um vor den letzten Höhenmetern und der anschließenden Abfahrt kurz durchzuschnaufen.
Ich blicke auf die Uhr und traue meinen Augen nicht – erst 17:45 Uhr, keine 11 Stunden absolviert. Ich weiß, dass ich, wenn alles normal läuft, nur mehr maximal 50 Minuten bis ins Ziel benötige. Unter 12 Stunden – nachdem es aufgrund der Umstände so lange nicht danach ausgesehen hat, dass eine Verbesserung gegenüber dem Vorjahr möglich wäre, dürfte die Form doch gepasst haben. Jaufenpass und Timmelsjoch scheinen doch ganz gut geklappt zu haben.
Durch diesen Umstand motiviert kratze ich die letzten Energiereserven zusammen – ich überquere die Passhöhe, stürze mich in die Abfahrt und versuche so viel Geschwindigkeit wie möglich in den Gegenhang zur Mautstation mitzunehmen. Mein Puls ist am Anschlag, die Muskeln brennen, aber ich gebe nicht nach. Nur mehr wenige Meter und die Abfahrt Richtung Sölden geht weiter. Ich will nicht im Ziel ankommen und mir sagen müssen, ich hätte noch Reserven gehabt. Ich will jetzt alles aus mir herausholen.
Im etwas flacheren, nur leicht abschüssigen Straßenstück bei Obergurgl gebe ich nochmal alles. Es gelingt mir sogar, noch andere Radfahrer abzuschütteln, so dass diese aus meinem Windschatten fallen. Es geht weiter bergab und ich mache mich so klein wie möglich, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Ich weiß, dass nur mehr der kurze Anstieg bei Zwieselstein auf mich wartet, diese wenigen hundert Meter heißt es noch einmal beißen. Die letzten Kurven nach Sölden hinein sind ein Genuss und nach 11:37:36,1 Stunden überquere ich die Ziellinie. Der Käpt`n, acht Minuten vor mir im Ziel angekommen, wartet schon auf mich – ich bin erledigt, aber stolz und unheimlich glücklich.
(St. Leonhard – Timmelsjoch: 02:56:54,8; Timmelsjoch – Ziel: 00:37:44,2)
Für knapp 1000 Radsportler ist ihr Traum in diesem Jahr geplatzt – unter diesen Bedingungen ist das alles andere als eine Schande, ich ziehe vor allen Startern den Hut, die es bei diesem Wetter überhaupt versucht haben.
Für alle anderen knapp 2400 Finisher fehlen mir die Worte – unglaubliche Leistungen, die an diesem Tag vollbracht wurden. Mein allergrößter Respekt an alle, die das Ziel in der Zeit erreicht haben und sich 2013 ihren Traum erfüllen konnten. Dies wird wohl einer der legendärsten Ötztaler bleiben – „Heldenwetter“ und ihr alle habt es ins Ziel geschafft!
Es freut mich dieses Projekt mit meinem Käpt`n zu einem erfolgreichen Ende gebracht zu haben. Es war anstrengend, mühsam, hart, stressig, unheimlich lehrreich, es hat mich an meine Grenzen und teilweise darüber hinaus geführt, aber so sehr sich viele der beschriebenen Dinge nach Quälerei und Schmerz anhören, so überwiegen doch die positiven Dinge: die Freude am Sport, das tolle Gefühl seine Grenzen immer weiter zu verschieben, die Kameradschaft und das Training mit Freunden und Gleichgesinnten, alle gesammelten Erfahrungen und Eindrücke der letzten Wochen und Monate, beginnend beim Training auf Mallorca, über die Vorbereitungsrennen, das Camp in Tirol bei Coach M und mit dem Team Kaiserschmarrn… der Radsport verlangt viel von dir, aber er gibt dir noch mehr zurück.
Ob ich 2014 wieder starten werde? Ich weiß es nicht, es gäbe ja noch genug andere Herausforderungen und Ziele, die man verwirklichen könnte. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass ich irgendwann noch ein drittes Finisher Trikot meiner Sammlung hinzufügen werde.
Gregor, mein Freund und Käpt’n: Diesen Weg haben wir gemeinsam geschafft – diesen Tag wird uns niemand mehr nehmen – dieser Tag wird uns bis zu unserem Alzheimer in Erinnerung bleiben – dieser Tag wird uns unser Leben lang verbinden.